top of page
LakeofLove©MelaWagnerNEU-3.jpg
Auszug aus dem Roman
'Lake of Love - Roadtrip der Gefühle' 
von Mela Wagner - ab 30.01.2024

Prolog

»Aber warum ging der Abenteurer in das ferne Land, Mommy?« 

»An dem Ort, den er bereiste, war der Himmel so blau wie der tiefste See und die Wolken schimmerten wie rosa Zuckerwatte. Berge ragten aus dem Wasser. Sie waren Brücken, die zu seinen Träumen führten.«

»Das muss ein schöner Ort sein …«

»Das ist er, mein Schatz, aber jetzt musst du schlafen gehen.«

»Bitte erzähl, wie die Geschichte ausgeht.«

»Dazu ist morgen noch Zeit …«

 

 

1. Rosie

»Hallo?«, krächzte ich verwirrt und blinzelte verschlafen auf das Display meines hell erleuchteten Handys. Drei Uhr morgens? Alarmiert setzte ich mich auf und rätselte, wem die unbekannte Nummer gehörte. 

»Reese?« Die weibliche Stimme durchbrach für einen Moment das Rauschen der schlechten Verbindung. »Reese Penelope Sutten? Bist du das?« Der Name, den sie aussprach, war wie der Aufdruck der einst pinken Pfingstrose, die auf meinem Lieblingspyjama abgebildet war und langsam verblasste. Mom und Dad gaben ihn mir vor zweiundzwanzig Jahren. Sie waren die einzigen Menschen, die mich so nannten.

»Reese Penelope Sutten? Hallo?«, wiederholte sie den vollständigen Namen, der auf meiner Geburtsurkunde vermerkt war, doch er fühlte sich nicht wie meiner an. Er wurde mir mit der Zeit genauso fremd wie die Menschen, die ihn benutzten. Trotzdem schien er Wirkung zu haben. Sofort fasste ich auf die Höhe meines Herzens und ertastete den weichen Stoff mit dem kitschigen Blumenmotiv, das mir irgendwann einmal richtig gut gefallen hatte. Die Stimme aus dem Lautsprecher beförderte mich blitzartig an den Tag zurück, an dem er mir den Schlafanzug mit den Worten: »Alles Gute zum achtzehnten Geburtstag, Rosie!« in die Hand gedrückt hatte. Wie sehr ich diesen Kosenamen seit seinem Verschwinden hasste und ihn zugleich vermisste, wurde mir in dieser Sekunde klar. 

»Hallo? Hörst du mich? Herrgott, diese Verbindung ist schrecklich«, beschwerte sich die Anruferin, die ich plötzlich aufgrund ihres deutlich hörbaren Akzents zuordnen konnte. Ein charakteristisches Merkmal, für das ich James immer geneckt hatte. So wie ich stammten auch er und seine Mutter aus London. Trotzdem klang die Aussprache ihres Cockney Englisch komplett anders als die der Oxford Gesellschaft, in der ich aufgewachsen war.

»Mrs Turner?«, fragte ich. Nervös rutschte ich an den Rand der Matratze und sah zum Kinderbett. Grace drehte sich von einer Seite zur anderen, streckte Arme und Beine weit von sich und seufzte. Zum Glück hatte sie das Klingeln meines Handys nicht geweckt. Die letzten Tage quälte sie eine lästige Erkältung und sie schlief schlechter. Erneut sah ich auf die Uhr. Womöglich träumte ich? Die aufgebrachte Stimme von James’ Mutter verdeutlichte, dass ich mich getäuscht hatte. 

»Zum Glück stimmt diese Nummer noch.« Anrufe im Morgengrauen bedeuteten nichts Gutes. 

»Mrs Turner, ist alles in Ordnung?«

Sie schniefte und mein Herz setzte einen Schlag aus. 

»Ist etwas mit … ist etwas mit James?«, stotterte ich, da es mir kaum möglich war, einen klaren Gedanken zu fassen.

»Reese, darf ich dich beim Vornamen nennen? Schließlich kennen wir uns kaum.« Sie wartete meine Antwort nicht ab, sondern sprach sofort weiter: »Es war Glück im Unglück. James hatte mit seiner Harley einen Motorradunfall. Er ist auf dem Weg der Besserung, aber er …«

Ich hatte beim Wort ›Unfall‹ aufgehört zu atmen, was ihr scheinbar durch die Leitung nicht entgangen war. 

»Keine Sorge, er hatte einen großen Schutzengel«, ergänzte sie sofort. Überhastet streifte ich mir die Decke von den Füßen und schlich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer. Mit einem Schulterblick kontrollierte ich, ob Grace mich gehört hatte. Zum Glück schlummerte sie tief und fest weiter. 

 »James würde nie Motorrad fahren«, keuchte ich und spürte, wie eine Träne über meine Wange kullerte. Was sprach ich da? Der James, den ich kannte, fuhr mit dem Rad, weil er meinte, dass genug Kohlenstoffdioxid in die Atmosphäre ausgestoßen werde. Aber genau dieser Junge hatte nichts mehr mit dem Star zu tun, der sich jetzt eine Harley leisten konnte. 

»Tja«, seufzte sie, »vielleicht war das mal so. Aber mein James hat sich verändert.« Die Art, wie sie ›mein‹ aussprach, machte mir bewusst, dass ich nicht mehr Teil seines Lebens war. 

Aufgeregt rannte ich vor der Schlafzimmertür auf und ab. »Wie geht es ihm jetzt? Ich meine …«

»Er ist wohlauf und beschwert sich über das Essen.« 

Das klang mehr nach meinem James. Verflucht! Es gab ihn nicht mehr, meinen James! 

»Reese, hör zu, ich melde mich bei dir, da James …« Sie legte eine bedeutende Redepause ein, was dazu führte, dass ich anhielt, weil meine Knie zu zittern begannen. Meine Hand wanderte an den Mund, um das heftige Atmen zu unterdrücken. »Er benötigt eine Freundin und ich habe ihm vorgeschlagen, mit dir zu sprechen und dich nach Adelaide einzuladen. Er zahlt dir einen First-Class Flug. Bitte komm mit dem nächsten Flieger.«

»W… Was?«, japste ich. James war einst mein bester Freund, mein Seelenverwandter, meine erste große Liebe, doch seit seiner Abreise hatte ich keinen Ton mehr von ihm gehört. Vier verdammte Jahre! Wie oft hätte ich ihn in dieser Zeit gebraucht?

»Reese, bist du noch dran?«

»Ich …« Bei Gott, ich wollte diesem Kerl so viele Dinge vorwerfen, so viel erklären oder richtigstellen, aber was hatte er sich dabei gedacht, seine Mutter vorzuschicken, um mich einzuladen und mir ein Flugticket zukommen zu lassen? Adelaide lag circa 16.300 Kilometer von London entfernt. Der Flug nach Australien dauerte zwanzig Stunden. Wie viele Male hatten wir uns damals über dieses Thema unterhalten, wie lange wir unterwegs sein würden, bis wir uns sehen konnten? Abgesehen von der Zeitverschiebung, die ich Grace nicht zumuten konnte. Aber warum dachte ich überhaupt darüber nach? Seit seinem Verschwinden hatten wir uns entfremdet und lebten nicht nur emotional auf verschiedenen Kontinenten, sondern auch geografisch. James wanderte zum weit entferntesten Punkt auf der Weltkarte aus, den man finden konnte. Und trotz der Kilometer, die uns trennten, wartete ich im tiefsten Innern meines Herzens seit vier Jahren darauf, dass er sich meldete, aber er hatte mich einfach vergessen. Erleichtert atmete ich auf, als mir klar wurde, dass James scheinbar nichts Schlimmes passiert war, doch die Art und Weise, wie er wieder Kontakt aufnahm, stieß mir sauer auf. Sein wortloser Abschied kehrte in meine Erinnerung zurück. Die aufkeimende Wut verdrängte das Gefühl, ihn zu vermissen. Stattdessen flutete Verbitterung jede Faser meines Körpers und ich spürte, wie Ärger meinen Hals eng werden ließ. 

»Mrs Turner, es tut mir leid, ich habe jetzt ein eigenes Leben und kann nicht mal schnell nach Australien kommen.«

»Reese, nenn mich doch bitte Helen. Ich würde nicht anrufen, wenn es nicht wirklich wichtig wäre. Du bist der einzige Mensch, der ihm gerade helfen kann. Glaub mir, es wäre mir lieber gewesen, wenn ich diesen Anruf hätte vermeiden können.« Ihre Worte irritierten mich. Ich kannte James’ Mutter nicht persönlich. Wir hatten nie ein Wort miteinander gewechselt. Welchen Grund sollte sie haben, den Kontakt zu mir meiden zu wollen? Etwas in ihrer Stimmlage sagte mir, dass sie mit meiner Absage gerechnet und sich darauf vorbereitet hatte. 

Wobei sollte ich James helfen können? Aus den Zeitungsartikeln, denen man in London nicht entkommen konnte, wusste ich, dass er kurz davor stand, in die Top Ten der Tennis-Weltrangliste aufzusteigen. Er modelte für einige namhafte Luxusmarken, besaß große Sponsorenverträge, präsentierte seine Topmodel-Freundinnen liebend gern vor den Kameras der Paparazzi und kaufte sich eine Harley. 

»Reese, James hat mir nie anvertraut, was damals zwischen euch passiert ist und warum ihr keinen Kontakt mehr habt, aber ich weiß, dass da mehr zwischen euch gewesen ist.« Wie all die Details über James, erfuhr ich aus den Klatschblättern, dass seine Mom kurz nach James’ Umzug zu ihm nach Australien übersiedelte. Er hatte ihr vor einem Jahr eine schöne Wohnung in einem angesagten Stadtteil von Adelaide gekauft. Sie brachten darüber einen großen Artikel im Daily Stars, der unübersehbar an jeder Ecke am Kiosk hing.

»Reese, ich habe gesehen, wie schwer ihm der Abschied gefallen ist …«, setzte sie ihren nächsten Dolch an mein Herz. Sie stoppte und flüsterte weiter: »Er hat es nie laut ausgesprochen, aber eine Mutter merkt, wenn es ihrem Kind nicht gut geht.« Mein Körper brannte innerlich. Aus meinen Augen lösten sich Tränen, die allesamt auf die ausgeblichene pinke Illustration der Pfingstrosen plumpsten. Verflucht seist du, James Turner! 

»Egal, was damals zwischen euch vorgefallen ist, James braucht dich jetzt. Er erlitt durch die Kopfverletzung ein Hämatom, das laut der Ärzte eine Amnesie verursacht. Bis auf die letzten zwei Jahre verlor er seine kompletten Erinnerungen. Wie du dir denken kannst, lässt ihn das gerade an vielen Dingen zweifeln. Die Ärzte meinten, dass für seine Genesung die Kontaktaufnahme mit einem Freund oder einer Freundin aus der Zeit davor heilend sein könnte. Die Situation belastet James zunehmend und ich beginne mir Sorgen zu machen. Eigentlich sollte er bereits für Wimbledon trainieren, man riet ihm dazu, sich zu schonen und abzuwarten, bis alles verschwunden ist.«

Das war also der einzige Grund, warum er sich meldete? Dieses verdammte Turnier, von dem er bereits vor vier Jahren geträumt hatte? James erinnerte sich nicht daran, wie wir uns kennenlernten? Wie er als Balljunge im Club begann, wie wir Wasserflaschen an die elitären Mitglieder verteilten oder die Servietten zusammenfalteten? Wir amüsierten uns gemeinsam über die hochgezogenen Nasen der britischen High Society und er gab mir das Gefühl, nicht eine von ihnen zu sein. Er half mir, Grannys Wintergarten in ein kleines Malatelier umzugestalten. Nach Monaten gestand ich ihm endlich meine Zuneigung und wir küssten uns fortan, als gäbe es weder einen Morgen noch einen Abschied. Er hatte vergessen, wie wir uns stundenlang im Glashaus liebten, wenn Granny zum Bingonachmittag verabredet war? Diese Erkenntnis schmerzte mehr, als dass James sich die letzten vier Jahre nicht für mich interessiert hatte. 

»Tut mir leid, Helen, aber ich kann hier nicht weg. Wenn James wieder Kontakt haben will, muss er nach England kommen.«

»Aber …« Ohne ein weiteres Wort legte ich auf, denn ich konnte mein Schluchzen nicht mehr unterdrücken. Mein Hinterkopf landete an der Wand und ich spürte unzählige heiße Tränen an meinen Wangen hinunterlaufen. Zum Teufel! Warum ausgerechnet jetzt? Die erste Zeit über verfolgte ich heimlich jeden seiner Siege, seine Verletzungen, Meilensteine und Misserfolge. Aus der Ferne konnte ich beobachten, wie aus dem achtzehnjährigen, zurückhaltenden und introvertierten James ein selbstbewusster, athletischer und verdammt attraktiver Mann wurde. Als mich nach einem Zeitungsartikel eine Panikattacke überrollte, legte mir mein bester Freund ans Herz, jegliche Presseberichte über James zu ignorieren. All die vergangene Zeit sehnte ich mich danach, ein Wort von ihm zu hören. Balljunge, Tennislehrer, oder Sportprofi – ich hätte ihn unabhängig davon bis in alle Ewigkeit geliebt. Es war mir nicht wichtig, welches Label er an seinen Klamotten trug, wie viele Preise in der Vitrine bei ihm zu Hause standen oder die Berge an Geld, die sich inzwischen auf seinem Konto häuften. Dieses Mädchen war ich nie, jedoch schien er anderer Meinung zu sein und mit der Zeit verstand ich auch, dass ihm seine Karriere immer wichtiger war als eine Zukunft mit mir. Vier Jahre Funkstille verdeutlichten, dass er mir keine Träne nachweinte. Wie besessen hielt er an seinem großen Traum fest, ohne einmal zurückzublicken. Nach dem Tod seines Vaters, als James noch ein Junge war, veränderte sich sein Leben und das seiner Mutter von einem Tag auf den anderen. Er setzte alles daran, seiner Mom und sich eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Ich war stolz, dass er es geschafft hatte, und zugleich brach es mir das Herz zu sehen, wie unbeschwert und glücklich James ohne mich in Australien leben konnte, während meine Welt nach seinem Weggang nicht dieselbe war. Womöglich wäre es besser, alles zu vergessen und sich wie James nicht mehr zu erinnern.

 

Viereinhalb Jahre zuvor 

 

»Hey, ihr beiden! Nicht herumstehen! Ihr sollt den Leuten Wasserflaschen zu den Courts bringen.« Vor lauter Schreck landete die Kiste mit den Getränken auf James’ Fuß. Heldenhaft biss er die Zähne zusammen und verzog den Mund, um vor unserem Chef nicht aufzuheulen. 

Mr Barton schüttelte den Kopf. »Es war ein Fehler, dich einzustellen, Reese Sutten. Kinder von Ehrenmitgliedern sollten hier nicht arbeiten und ich habe mich nur breitschlagen lassen, weil ich sonst Ärger mit deinem Vater bekomme.«

Mr Barton war schon immer ein furchteinflößender Mann, der den gesamten Tennisclub mit seiner pingeligen Art tyrannisierte. 

»Tut … tut mir leid, Sir.«

»Dich kann ich nicht feuern, aber bei dem Turner Jungen funktioniert das mit einem Fingerschnippen.« Während Mr Barton seine Augen zusammenkniff und James mit seinem Blick strafte, schüttelte ich energisch den Kopf. 

»Bitte nicht, Mr Barton! James und ich verteilen sofort die Wasserflaschen an die Gäste.« Demonstrativ hob ich die Kiste hoch und marschierte los. Ich sah über die Schulter und vernahm, wie er James am Ellenbogen packte und ihm eine separate Standpauke erteilte. Unsicher schob mein Freund seine Kappe zurecht. Dabei kringelten sich Strähnen seiner blonden Locken hervor. Nervös verharrte ich ein paar Meter weiter und kaute auf meinem Kaugummi. James trug eine Brille, die ihm viel zu groß war. Irgendwann erzählte er, dass dies der neueste Trend sei. In Wirklichkeit war es das einzige Kunststoffmodell, das für seine Mutter erschwinglich war. Jedes Mal, wenn er den Kopf senkte, rutschte sie ihm am Nasenrücken hinunter. 

»Wasserflaschen einräumen, Handtücher aufrollen und Servietten falten. Das ist doch nicht so schwer, oder?«, hörte ich Barton schimpfen. Seitdem James Halbwaise war und sie mit einem großen Schuldenberg konfrontiert waren, unterstützte er seine Mom mit jedem Gelegenheitsjob, den er finden konnte. Die fixe Arbeit im Club war für die beiden essenziell. James hasste es, arm zu sein und versuchte alles, um mir diese Tatsache zu verheimlichen. Er fand pausenlos Ausreden, um keine Besuche bei ihm zu Hause zu empfangen. Ich sah ihm an, dass er darunter litt und diesen Job so dringend benötigte. Es war kein Zeitvertreib wie bei mir. Kein Protest wie ich ihn gegen meine Eltern hegte, die mir nicht zuhörten, wenn ich von meinen Träumen und Visionen für die Zukunft redete. 

»Du bist hier, um zu arbeiten. Reese soll sich nicht die Hände schmutzig machen. Hast du das verstanden, du Idiot? Also lass sie nicht die schweren Kisten schleppen.«

»Ja, Sir!«

Wie ich den ganzen elitären Scheiß verabscheute. Mr Barton war ein Kotzbrocken, der seinen miesen Charakter in einem reinweißen Luxuspoloshirt und einer viel zu kurzen Shorts versteckte. Mit ein paar angedeuteten Aufscheuchbewegungen winkte er James davon. Ohne ein Wort zu sprechen, nahm er mir die Kiste ab und lief in einem Tempo zu den Courts, bei dem ich ihm kaum hinterherkam. 

»So ein Arsch!«, beschwerte ich mich. James’ Miene war starr und er schwieg weiter. An der Falte zwischen seinen Augen erkannte ich, dass er nachdachte. 

»Ich rede mit meinem Vater. Was bildet er sich ein? Er kann nicht so mit uns umspringen.«

Abrupt stoppte er und sah mich entsetzt an. »Das tust du nicht«, polterte er. Diesen Tonfall kannte ich von ihm nicht. »Vielleicht bist du an einen anderen Umgangston gewöhnt, weil du eine Sutten bist, aber für die gewöhnliche Arbeitsgesellschaft ist das normal.«

»Warum reitest du ständig darauf herum?«, schnauzte ich zurück.

»Weil es eben so ist, Reese! Ich arbeite hier und du solltest dir eigentlich die Zeit auf dem Court vertreiben und ein paar Bälle über das Netz schlagen.«

»Ich arbeite genauso hier …«

»Ja«, stöhnte er und rollte die Augen. »Doch bloß, weil du deinem Vater etwas beweisen willst. Du hast keinen Cent von Mr Bartons Kohle nötig.«

»Selbst wenn, deswegen ist meine Arbeitsleistung nicht weniger wert als deine …«

 James stoppte und presste seine Lippen zu einer schmalen Linie zusammen. Wenn er das nicht gerade tat, sahen sie weich und einladend aus. Wusste er, wie oft ich fantasiert hatte, ihn zu küssen? Vereinzelt erkannte man blonde Härchen, die einen jugendlichen Bartschatten andeuteten. James wurde langsam ein Mann und das versetzte meinen Körper in einen seltsamen Zustand. 

»Sobald du mit deinem Dad redest, würde es alles nur noch schlimmer machen«, erklärte er mit gesenkter Stimme. James lief weiter und ließ mich links liegen. Wir erreichten die Courts. An jeder Seite stand ein kleiner Kühlschrank, den wir gemeinsam befüllten. Unsere Hände berührten sich für einen Augenblick und James zuckte zurück. Er mochte mich, das sah ich in seinen Augen, oder hatte er womöglich Angst vor meiner einflussreichen Familie? Verlegen strich ich mir mein Haar hinter das Ohr. Es war frisch geschnitten und reichte mir bis knapp zu den Schultern. Die rosa Mähne war neben meiner Angewohnheit, ständig und überall den Kaugummi zu kauen, ein weiterer kleiner Aufstand gegen meine konservativen Eltern und ich war stolz darauf.

»Bloß weil du deine Haare rosa färbst und als Trotzreaktion hier abhängst, heißt das nicht, dass du eine Rebellin bist«, wetterte er weiter. Autsch! Das tat weh. Was war nur heute mit ihm los? So fies hatte ich ihn noch nie erlebt. 

»Bloß weil du ein Poloshirt mit viel zu knapper Shorts trägst, bedeutet das nicht, dass du dich genauso verhalten musst wie dieser versnobte Arsch.«

Einsichtig nickte er. »Tut mir leid«, seufzend sah er wieder zu mir. Jedes Mal entdeckte ich neue winzige goldene Sprenkel in seinen grünen Augen. »Ich habe nur Angst, den Job zu verlieren, das ist alles.« Für einen Moment huschte ein Lächeln über seine Lippen.

»Ich mag das Rosa. Es passt zu mir!« Demonstrativ zog ich an ein paar Haarsträhnen und schielte auf den blassrosa Ton.

»Es steht dir«, bestätigte er. Ich konnte sehen, wie sich seine Wangen in einem ähnlichen Ton verfärbten. James war mit seinen achtzehn Jahren ein echtes Riesenbaby, gefangen im Körper eines athletischen Mannes. Als ich vor einigen Wochen im Club anfing, sprach James kein einziges Wort mit mir. Er gestand, dass er mir gegenüber skeptisch war, da ihm Mr Barton vor meinem Arbeitsbeginn eine Moralpredigt hielt. Meine Familie war tonangebend und wichtig für den Club, der zum Teil von den Spenden meines Vaters finanziert wurde. Aus Angst, etwas falsch zu machen, ignorierte mich James wochenlang. Nur langsam fasste er Vertrauen und verstand, dass ich alles andere als das Püppchen war, für das er mich hielt. Keines der Clubmitglieder – und schon gar nicht eines der vielen Mädchen in meinem Alter – konnte nachvollziehen, warum ich lieber arbeitete, als dämlich in der Gegend herumzustehen und dem Tennislehrer schöne Augen zu machen. Als ich meinem Vater von meinem Wunsch erzählte, Kunst zu studieren, erklärte er, dass ich keine Ahnung hätte, was es bedeutet, hart für sein Geld zu arbeiten. Er rechnete nicht damit, dass ich ihm das Gegenteil beweisen wollte und mich noch am selben Tag bei Mr Barton nach einem Job erkundigte. Insgeheim hoffte ich, dass es ihn von seinem Plan abbrachte und er mich das studieren ließ, wovon ich träumte, doch mein Engagement schien Dad nicht zu imponieren. Deshalb fuhr ich andere Geschütze auf. Jeder hier im Club sollte von Weitem sehen, dass ich Reese Sutten mit dem rosa gefärbten Haar war.

»Dort kommt deine Lieblingsfreundin!«, erklärte ich und deutete mit einem Kopfnicken zu Macy. Sie war hochgewachsen, schlank und übertrieben schön und nicht das einzige weibliche Clubmitglied, das neuerdings James zuwinkte, sobald es ihn sah. Ihr Interesse wuchs, als sie bemerkten, dass ich ständig mit James abhing. Verdammt, nervte diese Tussi. Zum Glück interessierte sich mein bester Freund jedoch nicht für die verdunkelten Sonnenbrillen und Rolex–Trägerinnen. Insgeheim wusste James, dass ich unter dem Arbeitsoutfit und meinen rosa gefärbten Haaren eine von ihnen war. Diesen Umstand versuchten wir beide zu ignorieren. In meinem Nachtkasten lagen drei unterschiedliche Luxusuhren, die ich zu diversen Festen von meinem Dad geschenkt bekommen hatte. Jedes Mal wünschte ich mir zum Geburtstag oder zu Weihnachten einen Malkasten, doch mein Vater ignorierte es und überreichte mir stattdessen ein teures Schmuckstück. 

James schnaufte und grinste zugleich, was mich ärgerte. Scheinbar gefiel ihm Macys plötzliches Interesse. »Sie hat gestern nach meiner Nummer gefragt«, äußerte er selbstbewusst.

Entsetzt riss ich die Augen auf. Das hatte sie nicht! »Und, hast du sie ihr gegeben?« Ich blies den Bubblegum vor meinem Mund zu einer großen Blase, um so gelangweilt wie möglich zu wirken. Sie platzte und das süße Zeug verteilte sich überall in meinem Gesicht. Hektisch zupfte ich die klebrige Masse ab und formte bereits eine neue. James bekam davon nichts mit. Er hatte nur Augen für Macy.

»Wenn man kein Handy hat, kann man auch keine Nummern austauschen.«

»Das ist natürlich richtig!«, stellte ich erleichtert fest. Freundlich lächelnd hob er seine Hand und winkte ihr zu. 

 »Warum bist du so nett zu ihr?«

James zerstörte mit dem Finger die rosa Kaugummiblase, die bereits meine Nasenspitze berührte, und lief zum nächsten Court, um die restlichen Flaschen in den Kühlschrank zu füllen. »Nett sein kostet nichts, sagt meine Mom immer.« Über die Schulter beobachtete er sie. Es gefiel mir nicht. Verdammt, ich wurde bei den Blicken, die sie miteinander austauschten, richtig eifersüchtig. Unsicher stellte ich mich hinter James und fummelte das Shirt im Bund der Hose zurecht. An der Brust spannte es. Im Vergleich zu Macy fühlte ich mich klein und mollig. Wie ein Obelix, während sie auf dem Court wie die wunderschöne ›Gutemine‹ von links nach rechts tänzelte und die lüsternen Blicke der Rentner auf sich zog. Im Restaurant nebenan pafften sie ihre Zigarren und erfreuten sich an Macys knappem Röckchen, dessen Stoff bei jedem Sprung etwas mehr Einblick erlaubte. James wäre dumm, wenn er sie mir nicht vorziehen würde. Schlecht gelaunt lehnte ich mich an das Kühlgerät und beobachtete, wie Macy kess ihren blonden Pferdeschwanz über die Schulter streifte und ein paar nicht erkennbare Perlen auf ihrer Stirn mit ihrem blütenweißen Schweißband abtupfte. Wie konnte man selbst bei dieser Sportart so perfekt aussehen? Der Tennislehrer Alfie lobte sie bei jedem Treffer mit einem lang gezogenen »Guuuut«, auch wenn der Ball nicht übers Netz ging, sondern stattdessen an die Fensterscheibe des Restaurants knallte und die Gaffer damit aufschreckte. Mal wieder erwischte ich James, wie er ebenso auf ihren Rock starrte. Er hatte mir im Vertrauen verraten, dass er noch nie ein Mädchen geküsst hatte. Nie im Leben wäre es ihm in den Sinn gekommen, dass eine Schönheit wie Macy Interesse an ihm haben könnte. 

»Hör auf zu sabbern!«, brummte ich und verpasste ihm einen genervten Seitenhieb.

Seine Lippen kräuselten sich und auf seiner Wange erschien dieses Grübchen, das mein Herz schneller schlagen ließ. »Sag bloß, du bist eifersüchtig?«

»Pah, doch nicht auf Macy. Lass uns lieber die Handtücher einordnen, sonst bekommen wir Ärger mit Mr Barton.«

 Er nickte. Aus der Hosentasche fischte ich einen neuen fruchtig duftenden Kaugummi und tauschte ihn mit dem aus meinem Mund. 

»Du bist süchtig nach dem Zeug!«, stellte er fest.

»Jep!«, bestätigte ich genüsslich kauend und genoss, wie sich die Süße in meinem Mund verteilte. Gemeinsam spazierten wir am Restaurant vorbei. 

»Was ist los?« Mit einem sanften Stupsen weckte er mich aus den kritischen Gedanken über mich und Macy. »Du wirkst, als wäre dir eine Laus über die Leber gelaufen.«

»Hmpf!«, antwortete ich kauend. Obwohl wir uns erst seit ein paar Wochen kannten, schien James eher zu spüren, wenn mich etwas belastete, als es meine Eltern taten. James hatte den richtigen Riecher. Bevor ich die protzige Villa verließ, die ich mein Zuhause nannte, hatte ich eine Diskussion mit ihnen. Ich wollte mir ein Rad kaufen, damit ich mit James gemeinsam zur Arbeit fahren konnte und nicht ständig auf einen der Chauffeure angewiesen war, der mich in die Kensington High Street fuhr. Jedoch schien das Fortbewegungsmittel für meinen Vater viel zu riskant und wenn es nach ihm ginge, musste ich früher als später den Job im Club wieder aufgeben, um mich auf den Schulabschluss und das Studium zu konzentrieren.

»Dad meinte, ich solle hier aufhören, damit ich mich auf das öde Wirtschaftsstudium fokussieren kann.«

Er hob eine Braue an. »Was ist mit deinem Wunsch, Kunst zu studieren?«

Seine Worte riefen bei mir ein sarkastisches Lachen hervor. »Die Kunstschule kann ich mir in die Haare schmieren. Wortwörtlich! Er lässt sich weder von meiner Haarfarbe noch dem Versuch, mein eigenes Geld zu verdienen, beeindrucken.«

James nickte und verzog den Mund. »Das finde ich sehr schade, denn du hast großes Talent.«

Er brachte mich zum Schmunzeln, denn James hatte keines meiner Bilder jemals in Wirklichkeit zu Gesicht bekommen und war trotzdem überzeugt, dass ich eine Begabung hatte.

»Du hast doch bloß die paar Handyfotos gesehen.«

»Das reicht mir. Aber vielleicht nimmst du mich einmal zu deinem geheimen Ort, an dem du malen kannst, mit?«

»Noch ist es bloß ein alter, zugestellter Wintergarten, den Granny nicht mehr verwendet. Sie meinte, ich könnte mich dort einrichten und eine Staffelei aufbauen.« Wehmütig blickte ich über den frisch geschnittenen Rasen und die detailbesessen in Form gehaltenen Sträucher, die widerspiegelten, in welch konträren zwei Welten ich mich aufhielt.

»Wenn du willst, helfe ich dir mit dem Einrichten. Ich kann gut anpacken.«

Lächelnd sah ich zu ihm und nickte. »Das fände ich schön, denn wenn ich hier aufhören muss, sehen wir uns nur noch selten.« Dachte er auch öfter an die Konsequenzen, die es mit sich brachte, wenn ich nicht mehr im Club arbeitete? Oder war es ihm egal, oder gar recht, damit er sich mit Macy allein treffen konnte? Gedankenverloren kaute ich auf dem Bubblegum, der plötzlich hart und langweilig schmeckte.

»Nach meiner Schicht besuche ich dich bei deiner Granny oder wir unternehmen etwas. Sie wohnt doch nur zwei Straßen weiter, oder?«

»Ja, gleich um die Ecke.«

»Dann sehen wir uns. Keine Sorge, ich laufe nicht fort.«

»Hmpf!« Sobald ich den Job gekündigt hätte, würde er mich bestimmt vergessen und an Macys Lippen kleben. Geräuschvoll ließ ich die Kaugummiblase platzen.

Andrew, der Sohn von Dads Tennispartner, stellte sich uns in den Weg. Er war mit seinen bunten Outfits ein wahrer Exot zwischen all den farblosen Clubmitgliedern. 

»Ree! Bemerkenswerte Haarfarbe! Willst du mir Konkurrenz machen?«, fragte er mit einem herzhaften Schmunzeln. Andrew trug ein gebatiktes Shirt mit neongelben Shorts und grünen Sneakers. Ich mochte seinen Stil, der seinen orthodoxen Vater gewiss an den Rand seiner Toleranzgrenze brachte. 

»Bin in den rosa Farbtopf gefallen!«, witzelte ich grinsend und begrüßte ihn mit einem High Five. Wir kannten uns aus der Eliteschule und ich mochte Andrew, weil er wie ich etwas verrückt war und dazu stand.

»Wow, dann bin ich jetzt nicht mehr der einzige Paradiesvogel zwischen all den Schwänen.« Anerkennend tätschelte er meine Schulter. 

»Oh, du hast da etwas …«, bemerkte Andrew und stellte sich so nah an mich, dass ich sein extravagantes Parfüm riechen konnte. Neben mir hörte ich, wie James einen sarkastischen Ton von sich gab, als Andrew eine winzige Mücke aus einer meiner Haarsträhnen entfernte. Obwohl ich James schon öfter erklärt hatte, dass Andrew nicht wie die üblichen Clubmitglieder war, schienen die beiden ein seltsames Verhältnis zu haben. Ohne ein Wort lief James weiter. Im Augenwinkel beobachtete ich, wie Macy den Weg zu den Umkleiden entlangspazierte und sich ihre Wege – natürlich rein zufällig – kreuzten. 

Andrew textete währenddessen weiter: »Unsere Väter sprachen letztens darüber, dass ihr uns auf dem Anwesen in Cotswolds besuchen kommt. Wir haben dort eine große Pferdezucht und wir könnten gemeinsam ausreiten. Vor ein paar Wochen kam ein englisches Vollblüter-Hengstfohlen zur Welt. Total süß!«

»Hmm«, stimmte ich abwesend zu. Meine Konzentration galt Macy, die James’ Kappe abzog und durch seine blonden Locken wuschelte. Dabei kicherte sie und streifte sich kess eine ihrer Strähnen hinters Ohr. Mein Herz schlug doppelt so schnell und ich spürte den Kloß in meinem Hals. Sie sahen nebeneinander wie das perfekte Tennis Couple aus. Beide groß gewachsen, athletisch und wunderschön.

»Außerdem baue ich dort Pot an und wir können uns zudröhnen.«

»Hm …«

Erst als er schallend zu lachen begann, sah ich wieder zu ihm. »Hast du mitbekommen, was ich gerade zu dir gesagt habe?«

»Ihr habt ein neues Fohlen.« 

»Unter anderem …« Andrew folgte meinem Blick und kommentierte laut: »Seit wann steht Prinzessin Macy auf arme Kerle?«

»Halt die Klappe. James hat keinen Treuhandfonds wie wir, was ihn nur noch wertvoller für mich macht.«

Entschuldigend hob er die Hände. »Schon gut.« 

Entsetzt beobachtete ich, wie er mit Macy flirtete. James würde mich niemals so anlächeln.

»Sag nicht, dass du seinem Charme ebenso verfallen bist? Mein Gott, der Kerl spielt die Poor Guy Karte aus. Das ist so ›Vanity Fair‹.« 

Meine secret love war dabei, sich in Macy zu verlieben. In meiner Brust schmerzte es fürchterlich, und ich schwor mir, den Job freiwillig hinzuschmeißen, bevor ich Zeuge ihres ersten Kusses wurde. Aber das würde James nicht zulassen! Oder doch? Davor würde ich mir meine Haare wieder braun färben, schlichte Kleidung tragen und, wie mein Vater von mir verlangte, Wirtschaft studieren. 

»Andrew, ich muss los, es war schön, dich zu sehen. Vielleicht reiten wir mal gemeinsam …« Das klang seltsam und bevor ich es realisierte, waren die Worte über meine Lippen gepurzelt. 

Der sympathische Freidenker grinste und nickte wohlwollend. »Nenn mich Drew, das klingt nicht so steif, Ree mit dem rosa Haar!«

»Drew mit dem Sunshine Shirt, das werde ich in Zukunft machen.« 

Er hob zum Abschied die Hand und schlenderte fröhlich pfeifend an mir vorbei.

Macy und James waren mittlerweile in den Umkleidekabinen verschwunden. Wir sollten dort Handtücher sortieren und zusammenlegen, aber ich war mir sicher, dass die beiden gerade dabei waren, sich heftig zu küssen und für ein Durcheinander sorgten. Emsig lief ich zu den Garderoben, bereit, mich für James in den Kampf zu werfen. Seit Wochen bemühte ich mich, witziger, schöner, faszinierender oder schlanker zu sein und dieser Idiot raffte nicht, dass ich mich Hals über Kopf in ihn verliebt hatte. Meine Wangen glühten, als ich die Tür aufriss. Sie hatten vermutlich denselben Ton wie die frisch gefärbten Haare auf meinem Kopf angenommen. Abgehetzt blieb ich vor einem leicht irritierten James stehen, der fein säuberlich die Handtücher einrollte. Keine Spur von Macy. Mein Atem kam stoßweise.

Alarmiert schob er die Arbeit zur Seite, kam ein paar Schritte auf mich zu und fasste nach meinen Händen. Seine Nähe fühlte sich neu an und sie führte dazu, dass ich kaum noch Luft bekam. Er stand dicht vor mir, sodass sein sanfter Atem meine rosa Backen streichelte. James roch nach frisch gewaschener Wäsche und dem wohlduftenden Haargel, mit dem er seine Locken stylte. Im Schrank der Umkleide für die Mitarbeiter sah ich zufällig die Tube des Gels stehen, das diesen besonderen Duft verströmte.

»Was ist passiert? Hat Andrew dich angefasst?« Wäre das Leben ein Liebesfilm, würde er seine Hände von meinen lösen, sie in mein Kreuz schieben, mich sanft zu sich lotsen und mir einen … »Warum starrst du so seltsam? Was ist geschehen?« Er beendete unsere Verbindung und rüttelte fest an meinen Schultern. Seufzend ließ ich von dieser schönen Fantasie ab.

Stattdessen senkte ich den Blick und glotzte auf meine weißen Adidas. James trug dasselbe Modell. Sie sahen jedoch durch seine Arbeitsdauer im Club schon mitgenommener aus. 

»Nein, alles gut, ich bin nur außer Atem. Ich wollte nicht, dass Mr Barton denkt, ich würde dämlich in der Gegend herumstehen.«

Automatisch zogen sich seine Brauen zusammen. Er sah nicht überzeugt aus. »Wenn du Andrew magst, kannst du das ruhig sagen. Du musst keine Ausreden für deine leuchtenden Augen suchen.«

»Andrew?«, schnaubte ich entsetzt und schüttelte den Kopf. 

»Rosie, ich kenne dich mittlerweile ziemlich gut und so, wie du gerade aussiehst, wirkt es, als hättest du dich bis über beide Ohren in ihn verliebt.« Der Spitzname, den mir James vor Kurzem aufgrund meiner Haarfarbe verpasst hatte, war jede dicke Träne wert, die ich vergossen hatte, als Mom und Dad mein Kunstwerk auf dem Kopf kritisiert hatten. Mein Herz schlug jedes Mal schneller, wenn er mich so nannte. 

»Schließlich haben seine Eltern viel Geld und eine Pferdezucht!« Täuschte ich mich, oder hörte ich in seinen Worten einen Anflug von Missfallen? Womöglich bildete ich mir das nur ein, doch bloß der Gedanke, dass er eifersüchtig sein könnte, hob meine Stimmung wieder an.

»Jedenfalls wirkst du anders, wenn er bei dir ist.« James zuckte mit der Schulter und sammelte die Handtücher ein, die er aus Versehen vom Tisch geworfen hatte. Dabei flog ihm seine Kappe vom Kopf und ein paar seiner Locken fielen ihm ins Gesicht. In meinen Fingerspitzen kribbelte es. Zu gern hätte ich ebenfalls getestet, wie sie sich anfühlen. Macy war mir zuvorgekommen. Tatsache war, dass ich große Angst hatte, James von meinen Gefühlen zu erzählen. Wie würde er reagieren? Wäre unsere Freundschaft beendet? Würde er mich auslachen? James war der erste Junge, für den ich etwas empfand. Großspurig erzählte ich ihm, dass ich schon ein paar meiner männlichen Schulkollegen geküsst hatte, was eine große Lüge war.

 

Es läutete eine lange Zeit, bis endlich jemand abhob. 

»Ree! Weißt du, wie spät es ist?«, krächzte die Stimme aus dem Lautsprecher.

»Hey … tut mir … ich brauche dich.« Mein Atem kam stoßweise. Angstschweiß breitete sich auf meiner Stirn aus.

Im Hintergrund hörte ich, wie jemand tief brummte. Es raschelte, eine Tür wurde geöffnet und wieder geschlossen. 

»Was ist passiert?«, fragte er abgehetzt.

»Er … er hat sich gemeldet«, stammelte ich.

Wie ferngesteuert öffnete ich die Türe gegenüber und betrat den dunklen Abstellraum, den Andrew und ich zur Sperrzone erklärt hatten. Zwischen all den bemalten Leinwänden stand Grannys alter Schallplattenspieler. Der große Schrank, randvoll befüllt mit Vinyl Tonträgern, nahm die Hälfte der fünf Quadratmeter ein. Auf einem der Bilderstapel lag Grannys selbst gestrickte Wollweste, die sie bis zuletzt gern trug. Ich schämte mich für die dicke Staubschicht, die ich auf der Staubschutzhaube des Plattenspielers entstehen lassen hatte. Noch viel mehr aber dafür, dass ich all die Erinnerungen, die mir Granny hinterlassen hatte, in diese dunkle Kammer sperrte. Mit der Fingerspitze streifte ich über die Abdeckung und öffnete sie. Darin befand sich bis jetzt Grannys liebste LP von Aretha Franklin, die ich nach ihrem Tod nie entfernt hatte. Eine Version von ›Let it be‹. Sie war ein Soulfan. Als meine Großmutter noch lebte, hörte man bei geöffneten Fenstern die kraftvollen Klänge von Arethas reflektierten Erzählungen über ihr Leben, oder Ortis Reddings zeitloser Musik. Meine Grandma vererbte mir nicht nur diese wertvolle Musikkollektion, sondern auch ihre Wohnung im künstlerischen Stadtteil von Hampstead, die nach der Geburt von Grace unser sicherer Hafen war. Als hätte ich die Büchse der Pandora geöffnet, erblickte ich die Tube von James’ Haargel, die er irgendwann hier vergessen hatte. Die ersten Rillen wurden von der Nadel abgetastet und erzeugten das unverkennbare Knistern. Während ich den Verschluss des Gels öffnete und daran roch, erfüllte Arethas Stimme den winzigen Raum. Durch das Telefon hörte ich ein Seufzen. 

»Ree, du bist doch nicht etwa in der Abstellkammer«, schimpfte er. Als ich nicht antwortete, versuchte er es verständnisvoller: »Warum tust du das?« 

Drew wusste, was es bedeutete. Seitdem ich hochschwanger hier eingezogen war und wir gemeinsam die schmerzhaften Erinnerungen in die Kammer verbannt hatten, verschloss ich sie für meine Tochter und mich. 

»Schläft Grace?«, wollte er wissen.

Schniefend wandte ich mich um und sah durch den Türspalt auf ihr Bett. Friedlich schlummernd lag sie auf ihrer Matratze, während ihr ein paar der blonden Locken vom Kopf abstanden. Die Soulqueen sang darüber, wie man sich Gelassenheit und Akzeptanz in Zeiten von Schwierigkeiten und Sorgen bewahren konnte und ich hörte in jedem Ton Grannys Worte, wenn sie mich beruhigen wollte. 

»Ja, sie schläft.« Alarmiert fasste ich auf meine Brust, als ich realisierte, wie winzig der Raum war. Plötzlich kam mir alles so eng vor. »Drew, was habe ich getan? Ich bekomme kaum noch Luft!« Meine Stimme zitterte. Besorgt vernahm ich den schnellen Schlag meines Herzens. Es pochte wie verrückt. 

Durch das Telefon hörte ich klimpernde Schlüssel. »Ree, ich bin in zehn Minuten bei dir. Bleib in der Leitung. Alles wird gut.« Eine Tür knallte zu.

»Warum gerade jetzt?«, wimmerte ich und rutschte mit dem Rücken an der Wand zu Boden. Neben mir lagen kistenweise Sachen von Granny, die ich nicht geschafft hatte, auszusortieren. »Ich war doch gerade über ihn hinweg. Vier Jahre lang - kein Wort und nun dieser Anruf!« Dicke Tränen tropften auf dieses verfluchte Oberteil mit dem verblassten Pfingstrosen-Aufdruck. Die einzige Sache, die ich nicht in die Kisten wegsperrte.

Drew seufzte durch den Lautsprecher, den ich noch immer fest an mein Ohr gedrückt hielt. Ein paar meiner dunklen Strähnen purzelten in mein Gesicht, als ich den Kopf zwischen die Knie senkte. Am Tag, an dem Grace geboren wurde, hatte mir die Hebamme diese Übung gezeigt, um mich vor einer bevorstehenden Panikattacke zu bewahren. 

»Ree, wenn du ehrlich bist, warst du nie über James hinweg! Atme. Tief ein und aus. Ich bin gleich bei dir!«

 

 

2. James 

»Du solltest dich ausruhen, so wie es der Doc empfohlen hat!« 

»Ja, schon klar.« Langsam nervte er mich. Bestimmt lief ich die Stufen in den ersten Stock hinauf. Mein Kreislauf musste nach der Zeit im Krankenhaus wieder in Schwung kommen. 

»James, du hattest vor zwei Wochen einen Motorradunfall und kannst dich glücklich schätzen, noch am Leben zu sein.« Bis auf ein paar Schürfwunden und das nervige Hämatom im Kopf hatte ich keine weiteren Blessuren, was die Sache nicht leichter machte, denn äußerlich ging es mir blendend. Peter verfolgte mich seit zehn Minuten quer durchs ganze Haus, hinter ihm Sienna, meine Haushaltshilfe, die mit aufgebrachtem australischen Slang lautstark ihren Unmut äußerte. Sie verkürzte dabei Wörter, verwendete unkonventionelle Ausdrücke oder legte die Betonung auf andere Silben, sodass vieles komplett anders klang. Ihr Redeschwall klang dadurch oftmals humorvoll, selbst wenn sie schimpfte. Wenn sie in Rage geriet, was gerade der Fall war, verstand ich immer noch nicht alles. Mein Hund Bo bellte und setzte sich hechelnd neben meine vorbereitete Trainingstasche. Der intelligente Australien Shepherd war seit zwei Jahren an meiner Seite. Er realisierte sofort, dass etwas nicht stimmte. Beruhigend streichelte ich über seinen Kopf. »Schon gut, Bo.« Entschlossen wandte ich mich zu den beiden. »Mir geht es gut und ich möchte wieder mit dem Training beginnen.« 

In knapp sechs Monaten fand das größte Tennisturnier Englands statt. Meine ehemalige Heimat, bevor ich nach Down Under auswanderte. Es bedeutete mir alles, endlich die Top Ten der Weltrangliste zu erreichen, und ich wollte mir diese Chance nicht aufgrund dieses dummen Unfalls entgehen lassen.

Peter stellte sich neben mein Kingsize-Bett und beobachtete, wie ich meine Tasche auf das Bett hob und ein paar frische Klamotten hineinstopfte. Das Fitnessstudio war das Einzige, was mich gerade ablenken konnte, doch Peter hatte nichts anders zu tun, als den Doc darüber zu informieren, der mir eine offizielle Sportauszeit auferlegte. 

Gestresst strich er sich sein dunkles Haar zurück und wetterte weiter: »Das ist verrückt. Du hattest eine Kopfverletzung. Fast deine gesamten Erinnerungen gingen dabei verloren. Du kannst nicht einfach weitermachen, als wäre nichts passiert.« Der einst selbst gefeierte Tennisstar war noch immer in guter Form und hatte sich für seine Mitte fünfzig perfekt gehalten. Als mein Coach stand er regelmäßig mit mir auf dem Platz. Zwar hatte er keine Chance mehr, aber Peter kämpfte mit einer Hingabe, die ich bei manch jüngerem Kollegen vermisste. Genau das bewunderte ich mitunter an ihm. Peter war genauso ehrgeizig und von dem Sport besessen wie ich. Gerade er musste doch verstehen, was auf dem Spiel stand.

»Hauptsache, ich habe nicht vergessen, wie ich einen Tennisschläger halte und welche Karriere ich in den letzten zwei Jahren hingelegt habe.« Freundschaftlich stieß ich gegen seine Schulter, um ihn daran zu erinnern. »Peter, ich stehe kurz vor dem Einzug in die Top Ten. Wimbledon wartet nicht auf mich, wenn ich noch ein Jahr verstreichen lasse.« Anstatt des erhofften Nickens schüttelte er den Kopf.

Murrend sank ich rücklings auf der Bettkante nieder. Bo hüpfte neben mich und kuschelte sich an meine Seite. »Womöglich bist du derjenige, der all diese Details vergessen hat, Peter!«

»James …«, brummte er. »Ich habe nichts vergessen.«

Was war dann sein Problem? Das Hämatom würde sich ohnehin auflösen. Solange ich wusste, was mein Ziel war, konnte nichts passieren. »Der Krankenhausaufenthalt und diese Zwangspause kosten mich wertvolle Zeit, die ich nicht mehr aufholen kann.« Ich schloss die Augen und spürte, wie die Matratze einsank und mein Coach neben mir Platz nahm. Sienna rief Bo zu sich, der vom Bett hopste und ihr bellend aus dem Zimmer folgte. 

Peter sah zu mir und presste die Lippen zusammen. »James, du bist jung. Es kommen andere Turniere. Hier geht es um deine Gesundheit.«

Ächzend legte ich den Ellenbogen über mein Gesicht. »Der Arzt meinte, sobald das Hämatom fort ist, sollte mein Gedächtnis vollständig zurückkommen. Bei der letzten Untersuchung hatte es sich gut zurückgebildet. Es sind nur noch die Reste übrig, aber wo bleiben dann diese beschissenen Erinnerungen?« Stöhnend rieb ich mit den Händen über mein Gesicht. »Peter, wenn ich darauf warte, dass sie alle zurückkehren, fällt Wimbledon für mich ins Wasser.«

»Solange die Tests ergeben, dass sich das Hämatom nicht vollständig aufgelöst hat, schonst du dich. Das war der Deal, James.« 

Zornig kniff ich meine Augen zusammen, fasste an meine Locken, zog ein paar Mal daran und begann meine Schläfen zu reiben, in der Hoffnung, meine Teenagerzeit hervor zu rubbeln. Bis auf das Kribbeln der Kopfhaut passierte nichts. »Was, wenn das Hämatom komplett verschwindet und trotzdem diese Leere in meinem Kopf zurückbleibt? Sport ist das Einzige, was mir gerade helfen kann.«

»Deine Erinnerungen sind wichtig, aber nicht essenziell, um weiterhin Tennis spielen zu können«, beruhigte er mich. Warum war ich davon nicht überzeugt? Seufzend hob ich meine Augenbrauen. War ich ohne sie noch James Turner, das Ausnahmetalent, das den Profis auf dem Court mächtig Angst einjagte? 

»Womöglich sollten wir uns den Rat des Docs zu Herzen nehmen und Kontakt zu jemandem aufnehmen, den du von damals kennst. Hat deine Mom diese eine Freundin erreicht, von der sie dir erzählt hat?«

»Keine Ahnung, aber was soll das bringen? Sie ist mir fremd. Ich kenne sie nicht mehr. Wenn ich ihr begegne, mache ich mich lächerlich.«

»Womöglich werden Reize ausgelöst und du erinnerst dich an etwas. Was weiß ich? Das ist nicht mein Spezialgebiet. Gibt es noch andere, die ich kontaktieren kann?«

Emotionslos zuckte ich mit der Schulter. »Es hat einige Zeit gedauert, bis Mom überhaupt diese eine Frau erwähnt hat. Sie meinte, es gab einen triftigen Grund, warum wir keinen Kontakt pflegen, aber mehr konnte sie mir nicht sagen.«

»Eine einzige Person? Du wirst doch Freunde in England gehabt haben, oder nicht?«

Genervt schnalzte ich mit der Zunge. »Wie es aussieht, gab es nur diese Frau. Was muss ich für ein Nerd gewesen sein!« Verzweifelt kniff ich erneut die Augen zusammen und versuchte, mich an einen Anhaltspunkt von damals zu erinnern. Wenn ich mich nur genug anstrengte … doch in meinem Kopf herrschte eine Leere, die sich einfach nicht mehr füllen ließ. Die Gespräche mit Mom brachten keine neuen Erkenntnisse. Ganz im Gegenteil. Mich beschlich das Gefühl, dass sie mir etwas verheimlichte. Erschöpft schloss ich die Lider und suchte nach einem Lichtpunkt, der mich zurück aus der Dunkelheit führen konnte. 

»Vermutlich ist es besser, wenn wir deine Geburtstagsfeier abblasen«, hörte ich Peters Stimme. Viele der Sponsoren, Tennispartner und Wegbegleiter waren heute Abend eingeladen, um meinen zweiundzwanzigsten Geburtstag mit mir zu feiern. »Wäre ohnehin das Beste gewesen, wenn ich die Party gleich nach dem Unfall abgesagt hätte.«

»Nein!«, erwiderte ich etwas forsch und stützte mich auf die Ellenbogen. Auf keinen Fall wollte ich wieder der Mann sein, der nur eine einzige Freundin hatte. »Alles, was mich von diesem Zustand ablenkt, tut mir gut. Ich werde sonst verrückt!«

Peter schmunzelte und stand auf. »Genauso hast du reagiert, als ich das erste Mal mit dieser Überlegung ankam.« 

Hatten wir uns darüber schon unterhalten? Verflucht! War mir das entfallen? Womöglich kehrte die Erinnerung nicht zurück, sondern ich war dabei, noch andere Dinge zu vergessen. Träume waren von der Realität kaum zu unterscheiden und wenn ich ehrlich war, machte mir das verdammt viel Angst. Wurde ich verrückt?

»Tu mir einen Gefallen und setz das Training für die kommenden zwei Wochen aus. Ich fahre nach Penfolds und kümmere mich um die Vorbereitungen für deine Party. Du ruhst dich bitte so lange aus. Versprich mir das.«

Vor ein paar Minuten fühlte ich mich, als könnte ich Bäume ausreißen, nun fiel es mir schwer, die Augen offenzuhalten. Der Doc hatte mich davor gewarnt und Peter hatte recht – ich musste meinem Kopf etwas Ruhe gönnen, wenn ich wieder Leistung zeigen wollte.

»Wir sehen uns. Dein Fahrer wartet vor der Tür und bringt dich zur Location.«

»Hmm … ist gut!«, brummte ich und sank in die Matratze, bevor er die Tür hinter sich geschlossen hatte …

 

Ein Gefühl von wohliger Ruhe und Zufriedenheit durchströmte meinen Körper. Barfuß betrat ich einen sonnenerhellten Raum aus Glas. Weiße Vorhänge wehten im Wind. Aus der Ferne vernahm ich leise Soulmusik. Vor einer großen Staffelei sitzend, erblickte ich ein junges Mädchen, das sich vertieft dem Kunstwerk vor sich widmete. Das Bild, das sie malte, hatte ich schon einmal gesehen. Unbemerkt trat ich näher. Es täuschte und machte den Anschein, als hätte sich das Rosa des Flusses, das sie kunstvoll an die Leinwand pinselte, über ihre Schultern ergossen und ihr Haar in demselben Ton eingefärbt. Wellig floss es über ihren schmalen Rücken. Außer einem schwarzen Sporttop und einer kurzen Latzhose trug sie nichts weiter. 

»Pirsch dich nicht lautlos heran, oder willst du mich erschrecken?«, kicherte sie und ihre Stimme klang wie ein Echo aus einer längst vergessenen Zeit. Ich grinste schelmisch, so ertappt, wie ich mich fühlte. »Beobachtest du mich schon wieder heimlich?« 

Mein Geist wollte ihr zustimmen, doch die Worte verließen meine Lippen nicht. Ihre Stimme wirkte liebreizend, beinahe vertraut und entfachte ein Gefühl, das die Lücken meiner Erinnerung mit Zuneigung füllte. Ihr Lachen schlich sich in mein Innerstes wie eine liebgewonnene Melodie. Ich sehnte mich so stark nach diesem Menschen, wusste aber nicht warum, denn ich hatte sie zuvor noch nie gesehen. Es war, als verwoben sich unsere Seelen zu einer, als imitierten meine Lippen ihr Lachen, als könnte ich ihren Herzschlag spüren. Langsam erhob sie und drehte sich um. Interessierte Augen musterten mich. Ein Schmunzeln zupfte an ihren Mundwinkeln. Für einen Moment hörte ich auf zu atmen. Sie war wunderschön. Das bezauberndste, seidig schimmernde Wesen, das ich jemals gesehen hatte. Sie war ein Engel.

»Du hast dich verändert«, erklärte sie und ihr zartes Lächeln verebbte. Sie senkte den Blick zu Boden. Nein! Bitte nicht.

»Es hätte mir klar sein sollen, dass das passieren wird.« In ihrer Mimik erkannte ich plötzlich eine unergründliche Traurigkeit, die schmerzte.

Tränen stiegen in meine Augen und ein Gefühl von Verlust durchdrang mich wie ein Dolch. Mit einem Seufzen trat sie näher, hob die Hand, streichelte mit den Fingerspitzen über meine Wange. Sehnsuchtsvoll lehnte ich mich in ihre Berührung. »Ich liebe dich.« Dann war sie fort und mit ihr ein Stück Erinnerung, an das sich mein Innerstes verzweifelt klammerte.

 

 

Auszug aus dem Roman 'Lake of Love - Roadtrip der Gefühle'. Veröffentlichung 30. Jänner 2024.

© Mela Wagner, 2024, Jegliches Vervielfältigen und Kopieren ist verboten. 

bottom of page